Erlebnisbericht aus dem Vinschgau Oktober 2018

Erlebnisbericht aus dem Vinschgau Oktober 2018

Aus meinem Freundeskreis gab es reichlich widersprüchliche Reaktionen zu meinen diesjährigen Urlaubsplänen: “Das ist doch Arbeit und kein Urlaub!” – “Fantastische Idee, wie kommst Du denn darauf?” – “Das ist aber harte Arbeit, Du wirst ganz viele Blasen bekommen und Deine Romantik schnell verlieren…” – „ Du hast doch davon gar keine Ahnung und weißt daher gar nicht worauf Du Dich da einlässt.“
Man weiß ja nicht, aus welchem Grund manche Leute einem jede Idee gleich aus- oder madig reden wollen, ohne sich im geringsten für die zugrundeliegende Motivation zu interessieren. Ich sage mir, dass diese Reaktionen mehr aussagen über die Personen, die sie äußern, als dass sie irgendetwas mit mir zu tun zu haben.

Ich freute mich auf diese zwei Wochen auf einem Bergbauernhof im Vinschgau, bei dem ich mich über den “Verein Freiwillige Arbeitseinsätze” des Südtiroler Bauernbunds zu einem freiwilligen Ernteeinsatz gemeldet habe. Gegen Kost und Logis.
Die telefonische Absprache mit dem Bauern zwei Monate zuvor war kurz und sachlich. Er wollte weder meine Telefonnummer noch eine Adresse. Mein Wort, dass ich zum genannten Datum für zwei Wochen kommen würde, reichte ihm.
Je näher der Tag der Abfahrt kam, desto nervöser wurde ich. Wenn ich aufbreche in etwas Unbekanntes, dann haben die anderen es leicht, mich zu verunsichern. Aber ich hatte fest zugesagt, mit dem Bauern telefoniert, den Tag der Ankunft festgelegt, er verließ sich auf mein Wort. Da wollte ich nicht mehr zurück.
Manchmal erschrecke ich vor meiner Courage, andere nennen das Naivität. Ich bringe nur Neugier und Interesse mit, Landwirtschaftserfahrung habe ich bis dahin wirklich überhaupt keine.

Der Hof liegt fast eine halbe Stunde mit dem Auto weit oberhalb des Dorfes auf 1.540 Metern direkt am Hang. Ringsum gibt es so gut wie keine ebenen Flächen.

Zu Fuß braucht man vom Ort eine und eine halbe Stunde.
Ab der Hälfte der Strecke wird die Straße so eng, dass an der Leitplanke, soweit sie überhaupt vorhanden ist, fast alle Reflektoren abgerissen sind. Das macht der Schneepflug, der auf der schmalen Straße im Winter beim Schnee räumen regelmäßig die Reflektoren streift und sie dabei beschädigt oder ganz abreißt.
Auf halber Strecke stehen in einer größeren Kurve 30 Briefkästen. Weiter kommt der Briefträger nicht.

Den großen Milchkanister mit der gemolkenen Milch bringt die Tochter jeden Morgen um halb sieben auf dem Weg zur Arbeit bis zum Abzweig auf die größere Straße. Höher fährt der Milchtankwagen nicht.
Bis zum nächsten Nachbarn ist es eine gute halbe Stunde zu Fuß, oder man nimmt wieder das Auto und fährt 10 Minuten.

Den Umgang mit dem riesigen und schweren Schlepprechen aus Eisen muss ich lernen. Vor allem an dem steilen Hang, an dem wir am ersten Nachmittag das Heu einsammeln. Anfangs traue ich mich kaum mich umzudrehen aus Sorge, das Gleichgewicht zu verlieren und die Wiese runter zu stürzen. In anderen Gegenden Südtirols ziehen sie an solchen Hängen sogar Steigeisen an. Meine Bauersleute machen das nicht. Gleichgewichtsprobleme kennen sie anscheinend nicht.

Die Sinnhaftigkeit, hohe feste Bergstiefel bei dieser Arbeit zu tragen, erschließt sich mir sofort. Ich brauche keinen Gedanken daran zu verschwenden, wo ich hintrete und finde auf dem steilen und auch rutschigen Untergrund wenigstens ein Minimum an Halt.
Auch im Stall muss ich lernen, mich zu bewegen. Nach einem Sturz in die Mistrinne tröstet mich mein Freund, dass so ein Sturz Glück beim Lottospielen bringt. Aber da war der Tag schon vorbei und einen Lottoladen hätte ich auf die Schnelle sowieso nicht gefunden.
Kühe sind empfindlich lerne ich. Hat das eingebrachte Heu eine schlechte Qualität weil es zu früh oder zu spät geschnitten oder unter dem Trocknen zu häufig nass wurde, verringert sich die Milchproduktion. Ist das Heu mit Schimmel durchsetzt, kann sich das Euter entzünden. Bei einer Euterentzündung kann die Milch nicht verwendet werden und häufig stirbt die Kuh auch daran.

Beim Heu wenden und zusammenrechnen verliere ich das Zeitgefühl. Ich trage keine Uhr. Der zeitliche Rhythmus entsteht durch die Bewegung der Heugabel oder des Rechens und das Zurücklegen der Strecke auf der Wiese.
Für das Mittagessen ist immer Zeit und auch für eine kleine Trinkpause auf der Wiese. Zeit zum Verschnaufen, Zeit, um mich zu blicken.
Gearbeitet wird zügig und konzentriert, aber ohne Hetze.
Entgegen der Drohszenarien aus dem Freundeskreis bekomme ich keine Blasen. Ich lerne, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, den Stil der Heugabel oder des Rechens zu umgreifen.
Abends spüre ich viele Muskeln und spüre eine wohlige Müdigkeit. Mein Körper ist schwer und mein Kopf ist leicht.

Das Wetter und der Wetterbericht werden quasi in Dauerschleife beobachtet und abgehört.
Die Kunst des Bauern während der Erntezeit ist es, nicht mehr Gras abzumähen, als bis zum nächsten Regen getrocknet und eingebracht werden kann. Wer sich hier verschätzt, gerät unter Druck oder verliert gutes Futter.
Zur Not wird halbtrockenes Heu auf den Wagen geladen, eine Nacht oder höchstens einen Tag regengeschützt abgestellt und am nächsten Tag wieder auf der Wiese ausgebreitet um weiter zu trocknen. Das ist doppelte Arbeit für eine reduzierte Futterqualität und birgt zudem das Risiko, dass das halbtrockene Gras zu schimmeln anfängt oder noch schlimmer, sich entzündet. Trotzdem machen wir uns zweimal diese Arbeit, weil das Heu wertvoll ist. Ohne Heu keine Milch.
Wenn die Ernte schlecht war und im Winter das Futter für die Kühe ausgeht, dann wird statt Futter zuzukaufen eine Kuh verkauft. Kälbchen kommen jedes Jahr neue nach.

Hinter dem Wagen, mit dem das zusammen gerechte Heu von der Wiese eingesammelt wird, laufen wir zu zweit oder dritt nebeneinander mit den breiten Schlepprechen und sammeln ein, was der Wagen nicht mitnimmt. Mehr als einmal bücken sich die Bauersleute später beim Heimweg oder sie gehen regelrecht auf die Knie, um mit den Händen noch die letzten auf der Wiese liegengebliebenen Halme aufzulesen und in den Händen mit zurück zu nehmen. Nichts soll liegenbleiben. Alles ist wertvoll.
Ich bin berührt von dieser achtsamen Art mit dem Gras umzugehen.

Die Koch- und Essensreste bekommen die fast 50 Hühner. Was sie liegen lassen holen später die Katzen oder die Vögel.
Hühner sind Allesfresser lerne ich. Gibt man ihnen allerdings regelmäßig Fleischreste beginnen sie, sich gegenseitig zu kannibalisieren. Kränkelnde oder schwache Artgenossen schließen sie aus ihrer Gemeinschaft aus.
Puten stinken ganz fürchterlich und gehen mit geschwächten Artgenossen ähnlich um wie die mit Fleisch ernährten Hühner.
Ein Puter, der Probleme beim Gehen hat, wird vorzeitig geschlachtet. Rechtzeitig bevor ihn die anderen fertig machen.
Die Kühe kennen ihren Bauern und seine Stimme. Die kleine Herde, die den Sommer in einem Waldstück etwas entfernt verbringt, kommt auf Zuruf, um sich ihre wöchentliche Ration Salz abzuholen. Die Kühe am Hof wissen gut, was sie dürfen und was nicht. Manche zeigen offen, dass ihnen egal ist, wenn der Bauer mit ihnen schimpft.
Die 5 Wochen alten Katzenbabys sitzen am liebsten unter meinem Auto auf den Reifen. Vor dem Einsteigen umrunde ich das Auto und schicke beim Losfahren ein Stoßgebet zum Himmel, dass auch alle rechtzeitig drunter hervorgekommen sind.

Der Blick vom Hof ins Tal und darüber hinweg ist atemberaubend. Das Haus steht fast direkt auf der Bergkante. Ab dort fällt die Wiese steil nach unten ab.
Vom Küchenbalkon beobachte ich am Abend ein Reh mit seinen zwei Kitzen auf der Wiese unterhalb des Hauses. Sie kommen so nah, dass sie ohne Fernglas gut zu erkennen sind.

Der Panoramablick aus meinem Zimmer verführt zu an die hundert Fotos, auf denen die immer gleichen Berggipfel in immer verschiedenen Lichtverhältnisse zu sehen sind. Schön sind sie alle, aber keines zeigt die Berge wirklich so, wie ich sie aus dem Fenster sehe.

Im Gemüsegarten ist jeden Tag etwas anderes erntereif. Bohnen sind zwischen den großen grünen Blättern schwer auszumachen. Die Gurken sind seltsam stachlig, fast wie Kakteen. Manche Zucchini sind so groß wie die großen Halloweenkürbisse. Nach einem halben Tag Kartoffelernte bin ich ganz sicher, dass das keine geeignete Arbeit für mich ist.
Zum Essen gibt es, was der Garten gerade bereit hält und regionale Küche. Fast alles ist selbst gemacht. Die Milch kommt frisch aus der Milchkammer. Grade, dass sie nicht mehr kuhwarm ist. Ich bin überrascht wie gut sie schmeckt und gerne bereit, eine Erinnerung aus meiner Kinderzeit zu revidieren.
Obwohl ich in Italien bin, schmeckt der Kaffee ganz deutsch.

Die Kühe, die nicht auf die Wiese können, bekommen täglich frisches Grün auf ihren Futtertisch. Das wird bei jedem Wetter gemäht, zusammengerecht und eingefahren. Es stammt von den Wiesen, die für die Kühe zum weiden zu steil sind oder auf denen nach dem zweiten Schnitt das Gras nicht mehr ausreichend hoch für einen dritten Schnitt wächst.
Gemäht wird mit einem unendlich schweren Handmähgerät, dessen Wendekreis beim Umdrehen so unerwartet groß ist, dass ich am Anfang dauernd verkehrt und im Weg stehe.
In der Scheune schiebe ich das frische Gras vom Wagen durch ein Loch im Boden direkt in den Stall darunter, wo es sofort vor den Kühen verteilt wird. Wenn es nicht schnell genug geht, fangen die Kühe ungeduldig das Brüllen an.

Gibt es auf der Wiese, im Stall oder im Haus nichts rechtes für mich zu tun, werde ich auf einen Spaziergang geschickt. Ich lerne, dass ich dann besser erst nach 2 bis 3 Stunden wieder komme oder noch besser gleich eine ordentliche Wanderung mache.
Da der Hof bereits sehr hoch liegt, bin ich immer schnell auf über 2.000 bis fast 3.000 Metern unterwegs.
Es gelingt mir nicht, mich satt zu sehen, Die Aussicht ist grandios bei jedem Wetter, die Weite und die Stille unbeschreiblich.
Egal, wie viel Essen ich mir für einen “Spaziergang” in meinen Rucksack packe, es ruft besorgtes Nachfragen hervor, wenn es zu wenig erscheint. Vom selbst geräucherten Speck und dem guten Käse sollte es doch immer ein gutes Stück sein und vielleicht noch ein oder zwei Eier und ein paar Tomaten und noch eine Gurke und ein Stück Brot.
Dort wo ich bin, gibt es keine bewirtschafteten Almen oder Hütten und außer Pilzesammlern kaum Wanderer. Allein im Wald auf einer Bank oder auf dem Gipfel schmeckt die mitgebrachte Brotzeit noch besser.
Ich begegne einem Viehhirten, der jeden Tag aus dem Dorf aufsteigt, um die Kühe vom Gipfel auf über 2000 Metern wieder ein Stück weit talabwärts zu treiben. Für die Kühe ist es so weit oben zu gefährlich sagt er. Ich habe den Eindruck das sehen sie anders.

Das Wetter ist leider ziemlich unbeständig mit häufigerem leichtem Regen. Weiteres Gras zum trocknen kann erst einmal nicht gemäht werden.
Die Nachbarn begegnen mir freundlich und aufgeschlossen. Neugierig sind sie auch und fragen woher ich komme und was ich hier tue. An den weit auseinanderliegenden Höfen kommt selten jemand fremdes vorbei. Eine willkommene Ablenkung vom Alltag.
Als ich patschnass nach zwei Stunden Weg fast am Ende des Tals an einem Hof ankomme, werde ich mit Kaffee und Kuchen bewirtet und anschließend wegen des anhaltend schlechten Wetters mit dem Auto zurückgebracht. Eine halbe Stunde Fahrzeit und Gelegenheit für einen Plausch und anschließenden professionellen Austausch unter den Bauern.
Gemeinsam mehrere Tage am Stück frei zu nehmen stellt die Bauern vor eine logistische Herausforderung. Die Tiere müssen jeden Tag versorgt werden. Ein Nachmittag in Meran, ein halber Tag helfen beim großen Mittelalterfest im Tal, ein Abend auf der Kirchweih, bringen etwas Abwechslung. Oft finden die Unternehmungen getrennt statt.

Was der Hof abwirft reicht nicht für alles und alle. Für notwendige größere Investitionen fehlt eine längerfristige sichere Planungsgrundlage. In den Herbst- und Wintermonaten wird daher noch einer zusätzlichen Arbeit im Tal nachgegangen. Obwohl die Zeit dadurch knapp wird und gut organisiert werden muss, wird das nicht nur als belastend sondern auch als bereichernd empfunden.

Das Leben auf dem Hof folgt einem anderen Rhythmus als meines in der Stadt. Bedürfnisse und Prioritäten sind andere, die Entscheidungsparameter auch. Und auch die Abhängigkeiten.
Ich danke den Bauersleuten für die herzliche und offene Aufnahme mitten hinein in ihre Familie und ihren Alltag. Für das Beschenktwerden durch mitarbeiten, mitleben und teilnehmen dürfen. Für die Erfahrungen und Eindrücke, so gegenteilig zu meinem städtischen Alltag. Für alles, was ich an neuem lernen konnte. Ja und es wäre schön, wenn ich im nächsten Jahr wieder zum Arbeiten vorbeikommen könnte.

Zwei Wochen lang war der Ort hier und die Zeit jetzt. Was anderes ist Urlaub?

Teresa Pölzl