Stern – Dezember 2020

Stern – Dezember 2020

Freiwillige vor!

Viele Menschen erwarten mehr von ihrem Urlaub als nur Erholung. Indem sie bei sozialen und ökologischen Projekten mitarbeiten, geben sie ihm einen tieferen Sinn.

Das Glück hat im Büro keinen Klang, keinen Geschmack, keinen Geruch. In den Bergen ist das anders. Da klingt es nach Vogelgezwitscher und dem rauschenden Fluss im Tal. Es schmeckt nach frischem Quellwasser. Und es riecht: nach Heu.
Im Sommer 2019 tauscht Timo Gerhold, 48, zum ersten Mal sein Büro gegen den Bauernhof, den Rechner gegen den Rechen, die hessischen Hügel gegen die Südtiroler Berge. Zwei Wochen lang hilft der Geschäftsführer des Sportvereins KSV Baunatal bei der Heuernte in Südtirol, beim Freiwilligeneinsatz auf einem kleinen Bergbauernhof im Langtauferer Tal, in fast 1800 Meter Höhe. Der Deal: Zeit und Arbeitskraft gegen Kost, Logis – und noch viel mehr als das.
Der Kontrast zum Alltag könnte größer kaum sein: Normalerweise hetzt Gerhold von Termin zu Termin, sitzt in Meetings oder am Computer, schreibt Mails, telefoniert, oft gleichzeitig, im Schnitt 50 Stunden die Woche. In Südtirol ist das anders. Gerhold senst das Gras an den Steilhängen. Er wendet das Heu mit dem Rechen, legt es zu Bahnen, trägt es in großen Ballen auf dem Rücken. Auch in der Sennerei im Tal hilft er mit. Bei gutem Wetter arbeitet er von morgens früh bis abends. Dann sitzen alle zusammen, essen Käse und Brot vom Hof, reden. Über den Tag, über das Leben.
Beim Bergbauernhof im Langtauferer Tal is vieles wie früher. Drei Generationen leben hier mit sieben Kühen, sieben Jungtieren und zwölf Ziegen. Die Familie verkauft Milch und Käse aus eigener Produktion, im Garten baut sie Gemüse für den Eigenbedarf an, alles wird verarbeitet, eingekocht, eingeweckt, eingefroren. Das Brot backen sie selbst, Eier und Honig kommen von den Hühnern und Bienen. Der Bauer ist auf Helfer angewiesen, vor allem zur Heuernte. Seine steilen Bergwiesen sind nur mit Handarbeit zu bewirtschaften.
Die Idee, in Südtirol einen Freiwilligendienst zu leisten, hatte Gerhold schon lange. Als seine Ehe vier Wochen vor dem geplanten Familienurlaub in die Brüche geht, ruft er beim Verein Freiwillige Arbeitseinsätze EO an. Zwei Stunden später ist er als Helfer bei der Heuernte gebucht. „Das ist das Einzige, wo ich meine Fähigkeiten einbringen konnte“, sagt Gerhold und lacht. „Beim Kühemelken oder Holzfällen wäre ich kaum geeignet.“ Jedes Jahr vermittelt der Verein etwa 2000 Freiwillige, darunter Manager, Lehrer, Bankangestellte, an rund 300 Südtiroler Bergbauern, die ihre Höfe nicht allein bewirtschaften können. Die Helfer sind durch den Verein unfallversichert und bleiben im Schnitt zehn Tage.
„Körperlich war es die anstrengendste Zeit meines Lebens, abends bin ich todmüde ins Bett gefallen“, erzählt Gerhold. „Aber ich fand es sehr erfüllend, nach all den Strapazen das duftende Heu im Stadl zu sehen und zu wissen, dass die Kühe es im Winter fressen.“ Auch die Demut, Dankbarkeit, Wertschätzung der Einheimischen habe ihn beeindruckt, ihr harter Alltag und die Gabe, mit wenig zufrieden zu sein. „Durch die Arbeit entwickelt man eine tiefe Achtsamkeit im Umgang mit der Natur und mit sich selbst.“ Sein Fazit: „Ich bin in ein anderes Leben eingetaucht und habe fantastische Menschen getroffen, die Freunde geworden sind, Nach keinem anderen Urlaub habe ich mich so vital gefühlt. Wer braucht da noch Meditations-Apps oder Resilienzübungen?“ In diesem Sommer hat er wieder bei der Heuernte geholfen, bei derselben Familie. Fortsetzung folgt. […]